Der noch ‚ungedachte‘ Körper und der Austausch mit nicht akademisch trainierten Körpern

 

Seit 2016 lassen sich die Arbeiten von CocoonDance mit der Denkfigur des noch ‚ungedachten‘ Körpers umschreiben. Die Suche nach dem noch ‚ungedachten‘ Körper folgt dabei weder einem Konzept noch einem Narrativ, sondern beginnt mit jedem Projekt als rein physische, ergebnisoffene Recherche aufs Neue.

 

Eine Referenz für die Denkfigur des  ‚ungedachten‘ Körpers stellt Laurence Louppe und ihr im Jahre 1997 veröffentlichte Poétique de la danse contemporaine dar. In ihrem Buch beschreibt sie den zeitgenössischen Tanz als ein Genre, das zwar über kein legitimierendes Erbe verfügt, dafür aber über eine enorme Freiheit, die Vorstellungen von Körper und Bewegung immer wieder neu zu entdecken und zu gestalten.

 

Mit dem Begriff des „Habitus“ findet sich eine weitere Referenz für den ‚ungedachten‘ Körper. Der französische Soziologe Marcel Mauss definiert Habitus als das sichtbare und spürbare Wesen eines Organismus, seine Gestalt und sein Verhalten. Es spricht von  „Techniken des Körpers“, mit denen sich die Menschen in einer Gesellschaft traditionsgemäß ihres Körpers bedienen und die unsere Körperhaltungen, Gangarten und Gesten umfassen. Der Habitus ist als eine kulturelle Choreografie zu verstehen, die auf erlernbarer Gewohnheit beruht, aber eben auch im Sinne eines noch ‚ungedachten‘ Körpers veränderbar ist.

 

Inspiration für den noch ‚ungedachten‘ Körper findet CocoonDance im Austausch mit, dem Tanz meist fremden Bewegungsdisziplinen ebenso, wie mit nicht-akademisch ausgebildeten Tänzer*innen. Durch die Recherche, Reflexion und Kommunikation mit ‚anderen` Bewegungsspezialisten, wie bspw. der Urban Dance- und Parkour-Szene, Folklore, Thai-Boxing, Voguing, Schauspiel, Tanz außereuropäischer Kulturen aber auch Geflüchteten, Schülern, Studenten haben Rafaële Giovanola und ihr Ensemble in den letzten Jahren ein erweitertes Verständnis von Körper und Bewegung erlangt und neue Formen der Verkörperlichung generiert. Tradierte Bewegungskonzepte werden nach deren Essenz befragt, aufgelöst und im Hinblick auf eine eigenständige neue Bewegungsform und Körperlichkeit hin transformiert.

 

Der solchermaßen erzeugte ‚neugedachte‘ Körper vermag uns die soziale Konstruktion von Körper und Geschlecht bewusst zu machen ebenso, wie die Freiheit, sich immer wieder in neuer Gestalt zu erfinden. Die hervorgerufenen Wahrnehmungsexperimente folgen keiner Dramaturgie, außer der des Körpers. Körper, welche in etwas Fremdes verwandelt werden und Bewegungen, die nicht nur die Körper der Tänzer, sondern auch die der Zuschauer bewegen.

 

Auch wenn die so entstehenden Kunstwesen als eine Art Befreiung unsres Sehens und Denkens vom Anthropozentrismus, als Parteinahme für einen Posthumanismus empfunden werden, ist dies nicht primär das Ziel der Arbeiten, sondern gründet sich stattdessen auf der immer wieder aufs Neue aufkommenden Begeisterung über die schier unbegrenzten Möglichkeiten und Verwandlungen des Körpers.

 

Angesichts der unbestimmbaren Vermögen der Körper und ihrer zunehmenden Verbindungen mit neuen Technologien ist Choreographie als normative Poetik und definiertes Regelwerk nicht länger aufrechtzuerhalten. Nicht mehr geht es darum, was Choreographie ist, sondern was sie sein kann. Alles besitzt das Potential, zum choreographischen sujet zu werden. Choreographie bezeichnet allein die Möglichkeit, das Vermögen, den gestaltungsoffenen Entwurf des Tanzes.

 

Wie aber kann dann eine choreografische Sprache entstehen, erläutert und geteilt werden? Dieser Frage ist CocoonDance mit einem Glossar, bzw. digitalen Form MoveApp basierend auf dem Bewegungsmaterial ihrer Stücke nachgegangen.